„Ich lebe den Traum“, sagt Gestur ein paar Momente nachdem wir in seinen großen, alten Geländewagen einsteigen. Von 1991 ist das Auto und es sieht mitgenommen aus. Ein richtiger Geländewagen, wie man ihn in den entlegenen Gebieten Islands eben braucht. Gestur ist knapp 60 und in Siglufjörður gebohren, aufgewachsen und tief verwurzelt. Wir fahren eine gute Stunde durch den kleinen Ort und ich bin dankbar für Erlebnisse wie diese, die ich bei meinen Islandreisen hier und da erleben darf. Oft werde ich von Lesern nach Geheimtipps in Island gefragt: Hier kommt einer davon, allererster Güteklasse!
Vorhang auf für Siglufjörður…
Siglufjörður: Hering-Haupstadt Islands
Die Geschichte von Siglufjörður ist eng mit den Fischen des Fjordes verbunden. Um das Jahr 1900 herum begann man hier mit dem industriellen Fischfang und baute diesen Schnell zu einer großen Einnahmequelle aus. Beinahe zwei Jahrzehnte wurde eine der größten Fabriken zur Verarbeitung von Hering im Fjord betrieben bis diese 1919 von einer Lawine zerstört wurde. Die dabei entstehende Flutwelle zerstörte auch viele der Boote im gegenüber gelegenen Hafen.
Man baute alles wieder auf und betrieb weiter Fischfang. Beinahe jede Dose Hering in Europa kam aus Siglufjörður. Im lokalen Hering-Museum kann man die gesamte Geschichte dieser Industrie nicht nur bis in’s kleinste Detail nachverfolgen sondern auch realistisch erleben.
Im Jahr 1968 musste man erkennen, dass man den Hering überfischt hatte und die Einnahmequelle versiegte. Seit den fünfziger Jahren schrumpft das Dorf, von den über 3000 Menschen die damals hier lebten sind heute noch knapp über 1000 übrig geblieben. Viele verließen den Ort um in Akureyri oder Reykjavík zu studieren und kamen nie zurück.
Robert Gudfinnsson wagt einen Neuanfang für Siglufjörður
Wie komme ich also überhaupt auf so einen kleinen Ort und wieso fahre ich hierher?
Ende 2017 las ich zum ersten Mal von Robert Gudfinnsson und finde nicht nur seine eigene Geschichte spannend, sondern vor allem seine Vision für seine Heimat: Er investiert weit über 26 Millionen Euro in den Auf- und Umbau des kleinen Ortes. Er will, das junge Menschen her kommen, bleiben und etwas aufbauen. Er glaubt an ein Siglufjörður in dem Museen, Tourismus, Biotech-Unternehmen und vieles mehr erfolgreich sind. 2014 wird er dafür als Geschäftsmann des Jahres gekürt, obwohl noch lange nicht alle Kästen gezählt sind, wie man in Island sagt.
Doch für seinen Mut zum Investment und seine Hartnäckigkeit in der Durchsetzung seiner Projekte hat er diesen Preis definitiv bereits verdient.
Am 16. April 2018 treffe ich Jón, mit dem ich vorher bereits wochenlang wegen eines Podcast geschrieben habe. „Hallo, wie geht es dir?“ sagt er und ich bin überrascht wie gut sein Deutsch ist. Zwar hatte er schon in E-Mails einzelne Phrasen auf Deutsch geschickt, aber da konnte ja der Computer helfen. Es stellt sich heraus, Jón ist zwar in Siglufjörður gebohren, verließ den Ort jedoch schon zur Schulzeit und kurz darauf auch Island um in Berlin zu studieren. Jón ist Ingeneur und studierte an der TU Berlin. Wir sprechen kurz über das große B an der Spree, wie er Döner und Club Mate vermisst und Letzteres Szenegetränk nun doch endlich importieren konnte.
Vor einiger Zeit bekam Jón einen Anruf in Berlin. Es war Robert der fragte: Hast du nicht Lust nach Siglo – so nennt man den Ort hier – zu kommen und ein Unternehmen aufzubauen. Jón hielt das für einen Scherz. Raus aus der aufstrebenden Großstadt Berlins, mit der wohl interessantesten Startup-Kultur des Kontinents zurück in eine 1200 Seelen Gemeinde knapp unter’m Polarkreis?
Über Weihnachten flog er mit seiner jungen Familie nach Siglufjörður um dort die Feiertage zu verbringen, traf Robert und entschied zu bleiben. Heute ist er Geschäftsführer von Genis, ein Unternehmen für Nahrungsmittel-Supplementierung welches aus einer Forschungsabteilung hervorging und derzeit aktiv an den ersten marktreifen Produkten arbeitet. Das Unternehmen beschäftigt heute ein paar Dutzend Mitarbeiter, größtenteils Ingeneure und bietet damit Arbeitsplätze die man hier sonst wohl nicht finden würde.
Das Siglo Hotel – Wenn man es sich gut gehen lassen möchte
Eines dieser Projekte ist das Siglo Hotel in Siglufjörður. Ein wunderschönes, altes Hafengebäude direkt am Meer. Vor dem Haus liegt ein Boot, welches ab und zu zum Whale watching genutzt wird. Direkt daneben baden die Besucher im Hotpot oder nutzen die Hoteleigene Sauna. Jedes der Zimmer hat eine atemberaubende Aussicht, egal ob zum Meer hinaus oder hinauf in die Berge.
Hier traf ich auch Jón und etwas später auch Gestur, der mir den Ort aus der Sicht eines Locals zeigte. Das Hotel liegt direkt gegenüber des Hering Museum und hinter den Schutzwällen die den Ort von den häufigen Lawinen aus den Bergen schützen. Alles ist modern eingerichtet, die Zimmer haben sehr hochwertige Möbel und im Erdgeschoss sorgen eine hoteleigene Bar sowie das Restaurant für das leibliche Wohl.
Beliebt ist das Hotel vor allem bei Wintersportlern in der kalten Jahreszeit, denn Siglufjörður ist eines der besten Ski-Gebiete des Landes und offenbar ein Geheimtipp für Skifahrer: Es müssen ja nicht immer die Alpen sein und wenn man die Islandreise im Winter mit einem Skitrip vereinen kann, ist das auf jeden Fall eine tolle Kombination.
Doch auch im Sommer finden immer mehr Besucher her, denn nicht nur Wintersport ist hier möglich…
Aktivitäten in Siglufjörður: Wandern, Kayaken, Skifahren & Whale watching
Ich hatte das große Glück mit Gestur Hansson einen erfahrene Siglufjörður-aner an der Seite zu haben: Jón sagte ich solle ihn unbedingt treffen wenn ich hier bin und etwas über den Ort lernen wolle: Wie recht er hatte!
Gestur ist kanpp 60, Mechaniker, Taucher, Kayaker, Snowmobil-Fahrer, Mitglied der hiesigen Bergrettung und die Liste könnte noch ewig weitergehen. Er wuchs hier auf, kennt die Hering Ära aus den Geschichten seiner Eltern, erlebte den Ort jedoch sein Leben lang als einen der Orte Islands aus dem die jungen Leute fort gehen. Seine Töchter haben den Ort beide verlassen, kommen aber ab und zu auf Besuch vorbei.
Langweilig wird ihm nicht: Mit seiner Frau und zwei Hunden, einem alten Labrador und einem jungen und sehr aktiven Dackel, lebt er in einem kleinen Häuschen mit blauem Dach, einer großen Veranda und einem Hotpot. Im Sommer veranstaltet er alle möglichen Aktivitäten. Sein Unternehmen Top Mountaineering bietet alles an, was man in Siglufjörður erleben kann und sollte.
Wandern, Bootstouren und Kayaking sind die beliebtesten Angebote. Mit dem Boot können die Fjorde aus einer besonderen Perspektive erkundet werden und bei gutem Wetter kann man auch weit hinauß bis zu den umliegenden Fjorden fahren. Wanderungen können im gesamten Tal, zwischen den Bergen oder zu ihnen hinauf unternommen werden. Die unberührte Natur ist ein Highlight und die Aussichten von den Bergrücken sind im Sommer sicher atemberaubend. Für mich besonders interessant sind die Kayak Touren, weil man im Fjord viele besondere Orte erreichen kann: Ein Schiffswrack welches in nur wenige Meter tiefem Wasser liegt ist für mich als Taucher natürlich besonders interessant aber auch das Befahren der Küste ist in diesem Fall sicher ein besonderes Erlebnis.
Das Hering Era Museum
Im Jahr 1994 eröffnete das Museum und gewann seit dem viele Preise: Völlig zu Recht, selten habe ich ein so aufwändig gestaltetes Museum in Europa gesehen. In jeder Ritze, in jedem Holzbalken steckt hier Geschichte. Von Raum zu Raum fragte ich mich mehr, wo man denn überhaupt diese vielen alten Artefakte herbekommt und fühlte mich sehr realtistisch in die Welt der Heringsfischer und -Verarbeiter katapultiert.
Ein wenig erinnerte mich das Museum an das Wasa Museum in Stockholm, denn los geht es im Bootshaus mit einem alten Schiff welches man auch von innen besichtigen kann. Geschichte zum Anfassen. Hier bekommt man einen guten Überblick über die Industrie zur Mitte des Jahrhunderts.
Dann geht es hinüber in die Fabrik, wo man sehen kann wie die Heringe verarbeitet wurden. Die teilweise brutal wirkenden, rieisigen Maschinen gepaart mit dem Geruch von Öl und altem Metall sorgen für das authentische Gefühl des mittendrin Sein.
Das Salzhaus und die Salzstation zeigen wie der Hering konserviert wurde. Besonders interessant fand ich hier die Wohnquartiere der Frauen, die diese Arbeit verrichteten. Ein Knochenjob, übrigens, denn oft mussten Kiloschwere Säcke geschleppt werden und die Arbeit wurde den ganzen Tag über verrichtet. Ein einfaches Leben hatten diese Damen nicht und umso beeindruckender ist es sich die Stuben anzusehen: Keinerlei Luxus und Betten auf denen ich nicht einmal meinen Oberkörper komplett unterbringen konnte. In der Ecke stand eine uralte Schreibmaschine, im Nebenraum dudelt ein Radio aus den Fünfzigern.
Das gesamte Museum ist mit so viel Liebe und so viel Blick auf’s Detail eingerichtet, dass es nicht wundert das jedes Jahr neue Besucherrekorde verzeichnet werden: Über 250.000 Menschen haben das preisgekrönte Museum seit der Eröffnung besucht. Immer noch viel zu wenige, meiner Meinung nach!
Fazit: Siglufjörður, ein aufstrebender Ort etwas abseits des beaten track
Orte wie diese, Erlebnisse wie das Erkunden des Ortes mit Gestur und das tolle Gespräch und die Gastfreundschaft von Jón sind es die Islandreisen für mich in besonderem Maße interessant machen. Bei dieser Reise im April 2018 merkte ich wie nur zuvor, wie sehr es mich mittlerweile weg vom touristischen Pfad zieht und wie sehr ich mich nach Orten sehne die eine interessante Geschichte haben und zwar eine die vielleicht sogar gerade erst neu geschrieben wird.
Spannend, wie ich finde und ich war sicher nicht das letzte Mal hier. Gerne möchte ich im Sommer wieder kommen, wenn das Meer ruhiger ist und ich eine Kayak Tour durch den Fjord machen kann. Vielleicht auch mit Tauch-Equipment… 🙂
Viel Spaß in Island!
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Wir waren im August d.J. in Siglo – eine wirklich beeindruckende und landschaftlich wunderschöne Stadt. In Rejkjavik durften wir auch R. Gunfinnson kennen lernen, auch das ein Erlebnis. Die Insel und alles in allem einfach unvergesslich und nur zu empfehlen.
Ein sehr schöner Bericht, danke sehr dafür.
Bin vor 3 Tagen mit der Fähre angereist und freue mich wieder auf weitere schöne Eindrücke in diesem wunderbaren Land.
Komme aus Österreich /Bregenz.
Liebe Grüße Veronika
Wir waren Anfang April in Siglufjördur, leider nur für eine Zwischenübernachtung im großartigen Siglo Hotel. Wir müssen unbedingt noch mal wiederkommen.
Danke für diesen Bericht!
Wir bereiten gerade unsere erste Islandreise vor. Siglufjörður steht auf unserer Wunschliste, diese lebendige und begeisternde Schilderung bestätigt unsere Wahl. Wir freuen uns drauf!!
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Ein sehr schöner Bericht, der einen gerade dazu auffordert, diesen Ort einmal selbst kennenzulernen.
👍👍👍
Danke Peter.
Ja, kann ich wirklich empfehlen 🙂
Toller Bericht! Danke